Unter der Brücke leben – oder Stunden kloppen?

Unter der Brücke leben – oder Stunden kloppen: Risikokonstellation für erhöhten Alkoholkonsum

Homeless alcoholic in depression.Als Werksarzt in einer Männerwelt wie dem Stahlwerk gehört auch die Frage nach dem Alkoholkonsum zu meinem täglichen Brot, wobei ich mir wenig Illusionen mache: wahrheitsgemäße Angaben und wirklich offene Gespräche sind sicher in der Minderheit. Zudem halte ich jedes Jahr einen Teil eines Suchtpräventionsseminars mit neuen Auszubildenden zum Thema Sucht und Alkohol. Dazu bin ich immer auf der Suche nach neuen Fakten, die die Diskussion in der Kleingruppe befruchten könnten. Just am Morgen vor meiner letzten Schulungsrunde im Januar dieses Jahres las ich in der Süddeutschen einen kurzen Artikel über den Zusammenhang von langer Arbeitszeit und Alkoholkonsum: http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/alkohol-und-arbeit-erloesung-vom-stress-1.2302354 . Der dort referierte Artikel ist zusätzlich im renommierten British Medical Journal (BMJ) als open access veröffentlich http://www.bmj.com/content/350/bmj.g7772 . Ein europäisches Forscherteam um Marianna Virtanen vom Finnish Institute of Occupational Health hat den Zusammenhang zwischen Länge der Arbeitszeit und Alkoholkonsum untersucht. Dazu haben sie eine systematische Übersichtsarbeit mit Metaanalyse erstellt, also versucht, alles verfügbare Wissen aufzuspüren und mathematisch zusammenzufassen – das ist prinzipiell der beste Weg zu sicherem neuen Wissen.

Die Literatursuche wurde nachvollziehbar akribisch durchgeführt und auch in der Analyse konnte kein Hinweis auf eine Verzerrung durch Nicht-Veröffentlichung negativer Studien (publication bias) gesehen werden. Für die Analyse wurde versucht, die Rohdaten der eingeschlossenen Studien zu konservieren, um genauere Aussagen zu erhalten als die, die man durch die Zusammenfassung der üblicherweise in Studien angegebenen Summendaten machen kann. Dabei wurden auch verschiedene Einflussfaktoren (Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status, Region, Art der Stichprobe und Häufigkeit riskanten Alkoholkonsums) untersucht.

Als Ergebnis zeigte sich, dass Arbeitszeiten von mehr als 48 Stunden pro Woche ein Risikofaktor (Faktor 1,13) für riskanten Alkoholkonsum sind. Das wurde schon vorher vermutet, konnte aber in Einzelstudien bisher nicht sicher belegt werden.

So weit, so gut – oder? Gerne schaue ich mir die Leserbriefe an, um einen anderen Blick auf eine Studie zu bekommen. Dort wurde unter anderem kritisiert, dass die zum Teil schlechte methodische Qualität der eingeschlossenen Studien nur unzureichend berücksichtigt wurde. Die methodische Qualität bezieht sich auf das, was man aus den Studien zu deren Durchführung entnehmen kann – und es ist ein Maß dafür, wie stark man dem jeweiligen Ergebnis vertrauen kann. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass teilweise Heterogenität nicht erklärt wurde. Heterogenität ist der Fluch jeder Metaanalyse: wenn das, was man verrechnen möchte zu unterschiedlich ist, und dies sollte man nicht tun („Äpfel und Birnen…“). Das zusammen, mit dem nur gering erhöhten Risiko würde die deutlich ausgesprochene Warnung der Autoren, die so auch breit in den Medien gelandet ist, nicht rechtfertigen.

Und meine Bewertung? Ich sehe hier ein Risikosignal – und ähnlich wie auch bei unerwünschten Arzneimittelwirkungen warte ich (bzw. die Aufsichtsbehörde) auch hier nicht, bis die letzte Gewissheit vorhanden ist, dass ein Medikament schadet, sondern handele vorher. Handeln heißt für mich nicht, strengere Arbeitszeitgesetze zu fordern – wir haben sicher ausreichende Regeln. Vor Ort heißt es für mich, massive Überstunden als Problem und nicht als Zeichen besonderer Leistungsbereitschaft zu begreifen. Die Sozialpartner vor Ort sollten dabei auch beauftragte (Sub)Unternehmen, die für und im eigenen Betrieb arbeiten, im Auge behalten. Die Überstunde sollte nicht den Ruf von „gut für die Firma, meine Karriere und mein Portemonnaie“ haben, sondern Ausnahme bleiben. Die Frage nach Häufigkeit und Menge der geleisteten Überstunden ist für das Beratungsgespräch hilfreich – und natürlich die Frage, ob diese ausgezahlt, abgefeiert oder einfach nur gemacht werden…

PS: die Azubis im Seminar waren erstaunt – Alkoholprobleme wurden eher mit den „losern“ die Nachts unter der Brücke schlafen in Verbindung gebracht, nicht mit den Fleißigen. Überstunden waren – zum Glück – noch kein Thema.

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