Das Couvade-Syndrom: die männliche Brutpflege

Kinder sind toll. Kinder sind anstrengend. Kinder geben Kraft. Kinder kosten Kraft. Schon bevor sie überhaupt auf der Welt sind.

„Kinder machen Väter stark“ titelt der Väterexperte Ralf Ruhl in seinem empfehlenswerten Buch. Aber machen sie Väter auch gesund? Oder eher krank…?

Im ersten Teil letztes Jahr ging es um die Zeit vor der Geburt des Kindes, die für Väter geprägt ist von den geistig-seelischen Vorläufern der Veränderungen und Eruptionen, die ein Kind auslöst in einer Beziehung – aber eben eher im Kopf,  im Sinne von  vorausgenommen, erhofft, befürchtet…

Dazu machen wir diesmal einen kleinen Exkurs, einen Ausflug in ein faszinierendes, etwas exotisch anmutendes und überwiegend unerforschtes Gebiet der Vaterwerdung: die sogenannten Couvade (französisch „couver“:  „brüten“). Der Ausdruck wird seit den 60er-Jahren in der Forschung benutzt. Geschichtlich gesehen ist die ganze Phase der Schwangerschaft von der Empfängnis bis zur Geburt fest in weiblicher Hand, Männer waren davon stets und strikt ausgeschlossen –  eigentlich…

Väter hatten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts diverse organisatorische Aufgaben im Umfeld der Geburt von der Versorgung der Mutter und Hebamme mit Holz, Wasser und Wein bis zur Eintragung im Geburtsregister. Mit der Verlagerung der Geburten aus dem häuslichen Umfeld hin in die Kliniken waren Männer auch vom indirekten Kontakt zur Geburt radikal ausgeschlossen.

Erste Ende der 70er Jahre kam es in der Nachfolge gesellschaftlichen Veränderungen zum kompletten Paradigmenwechsel: ab sofort war die Anwesenheit der Männer bei der Geburt erwünscht, sie wurde gefördert, und heute liegt die Quote der Väter im Kreißsaal bei über 90%. Und so wie vor 200 Jahren die Anwesenheit des Vaters bei der Geburt undenkbar war, brauchen Männer heute umgekehrt schon gute Gründe, um dies nicht zu tun.

In einigen Stammeskulturen haben werdende Väter über Jahrhunderte verschiedene Formen einer eigenen rituellen Geburtsbegleitung entwickelt. Dies bezieht sich auf Verhaltens-, Kommunikationsweisen und schließt auch deutliche körperliche Veränderungen mit ein.

Sie sondern sich von den anderen Männern ab, ziehen sich in spezielle „Geburtshütten“ zurück, winden sich in Wehenschmerzen, sind wehleidig, drapieren sich riesige Bäuche zurecht. Manche bringen vor der Niederkunft Opfer dar, fasten, verzichteten auf Tanz, Musik und außerehelichen Sex und mitunter sogar auf ihre Arbeit. Wahrscheinlich  dient dieses Übergangsritual der spirituellen Vorbereitung der Väter auf ihre neue Rolle und der Annäherung an die schwangere Frau in ihrer eigenen Sphäre.

Auch in unserer Kultur finden wir eine ganze Reihe von Veränderungen der Männer, die deutliche Parallelen zur Schwangerschaft der Frau aufweisen.

Die offensichtlichste Ähnlichkeit ist der Babybauch der werdenden Väter. Auch die Hormon- und Blutwerte ändern sich ähnlich der der Schwangeren, Männern werden häufig emotional schwankend bis hin zu rührselig-gefühlsduselig, auch die postpartale Depression erwischt sie manchmal.

So überraschend und weithin unbekannt diese Veränderungen sind, so wenig wissen wir eigentlich über Ursache, genauen Verlauf etc. der Couvade.  Die Forschungsergebnisse dazu sind sehr dünn. Einige Teilergebnisse sind:

  • Laut „Ärztezeitung“ entwickeln etwa 11 bis 79 Prozent aller werdenden Väter während der Schwangerschaft ihrer Partnerin typische Schwangerschaftssymptome wie Müdigkeit, Schmerzen, Übelkeit oder Verdauungsstörungen. Auch der Heißhunger und nächtliches Plündern des Kühlschranks kommt vor.
    Dem Psychologen Harald Werneck von der Universität Wien, der  sich seit fast 20 Jahren mit der Väterforschung beschäftigt, erscheint am plausibelsten eine Größenordnung zwischen 10 und 30 Prozent, also dass ungefähr jeder fünfte Vater Couvade-Symptome zeigt. Beim ersten Kind liege die Rate in jedem Fall höher als bei der zweiten oder dritten Schwangerschaft.
  • In einer indischen Studie aus dem Jahr 2014 klagten Väter in spe vor allem über Verdauungsstörungen, Appetitveränderungen, Müdigkeit und Kopfschmerzen. Bei den psychologischen Symptomen führten Schlaflosigkeit, Stimmungsschwankungen und Reizbarkeit die Liste an, gefolgt von Albträumen und vermehrter Rührseligkeit. Vor allem in den ersten und letzten drei Monaten treten die Beschwerden einer solchen „Ko-Schwangerschaft“ auf.
  • Die australische Psychologin Karen-Leigh Edward schätzt 2014, dass etwa vier bis zehn Prozent aller Väter in den Monaten nach der Geburt ihres Kindes eine Depression erleben – bei den Müttern ist diese Rate sehr ähnlich.
  • Auch schon in den Wochen vor der Entbindung können nicht nur Schwangere, sondern auch ihre Partner in ein seelisches Tief geraten. Diese „antenatalen Depressionen“ sind bei Müttern möglicherweise sogar häufiger als depressive Episoden nach der Entbindung. Auch 2,5 bis 20 Prozent der werdenden Väter sind davon betroffen, wie der Psychologe Kim Yiong Wee von der australischen Deakin University 2009 bei einer Auswertung der bisherigen Studien zum Thema folgerte.
  • Nach Umfrage eines britischen Marktforschungsunternehmens bei  rund 5000 Männern wog der väterliche Babybauch im Durchschnitt sogar mehr als sechs Kilo.
  • Genau wie bei Schwangeren lassen sich auch bei werdenden Vätern mehrere Änderungen im Hormonhaushalt nachweisen, etwa beim „Milchhormon“ Prolaktin. Bei Frauen reguliert dieser Botenstoff unter anderem den Zyklus, während der Schwangerschaft sorgt er für Brustwachstum und die Bildung der Muttermilch. Männer haben ebenfalls geringe Mengen des Hormons im Körper.
  • Vom Sexualhormon Testosteron hingegen haben werdende Väter im Durchschnitt weniger im Blut als kinderlose Männer.
  • Probanden mit höheren Prolaktin- und niedrigeren Testosteronwerten waren in psychologischen Versuchen weinenden Säuglingen gegenüber mitleidiger gestimmt und fühlten sich von dem Geschrei eher zum Handeln aufgefordert.
  • Die Konzentration des als Stresshormon bekannten Cortisol  sowie des weiblichen Sexualhormon Östradiol steigen ebenfalls an. Dies sorgt bei Frauen wie Männern für eine größere Empathie und Bindungsfähigkeit für die Säuglinge.

Soweit einige der bekannten Fakten. Über die die Ursachen und die Bedeutung der Couvade für die Männer und/oder ihre Frauen wissen wir kaum etwas. Die Deutungsversuche reichen wie meistens von männerkritischen bis hin zu männerfreundlichen Hypothesen. Hier einige davon:

  • Die Neidtheorie: Männer sind irritiert über ihre zukünftige Rolle, haben (verständlicherweise) wenig Bezug zum Ungeborenen und können sich nicht damit abfinden, dass nicht mehr sie, sondern das Baby im Mittelpunkt steht. Sie haben einen „Gebärneid“ und gönnen der Partnerin das Kind nicht. Dagegen „produzieren“ sie Symptome, um sich wichtig zu machen
  • Die Unverständnistheorie wird von Psychoanalytikern vertreten: Männer fühlen sich von der die emotionalen und seelischen Welt der werdenden Mutter  abgetrennt und  können sie nicht verstehen. Eine Annäherung an deren Erleben erfolgt durch eine ähnliche körperliche und emotionale Veränderung.
  • Die Evolutionstheorie: die Couvade  ist ein Programm der Natur, dass bewirken soll, dass auch der Vater ein „Brutpflegeverhalten“ an den Tag legt und so eine intensive Beziehung zum Kind aufbaut. Körperlich bietet der größer werdende Bauch dem Kind mehr Schutz und Geborgenheit durch eine imposantere Statur.

Meine eigene Theorie: in den letzten drei Jahren hat sich in der Einstellung vieler junger Väter eine enorme Entwicklung vollzogen – hin zu deutlich mehr Beteiligung am gesamten Prozess der Vaterwerdung und des Vaterseins. Männer wollen heutzutage dichter dran sein, mehr mitkriegen von ihren Kindern, nehmen sich mehr Zeit und ihre Werte auch bezügl. der Erwerbsarbeit verschieben sich. Die Politik hinkte da mit der Einführung der Vätermonate den Tatsachen hinterher, viele Personalchefs sind noch weiter hinten dran.

Männer erleben tatsächlich die Zeit der Schwangerschaft bewusster, eben auch die Getrenntheit vom Kind und das Nicht-nachfühlen-können der mütterlichen Gefühle, und dies eher schmerzhaft. So versuchen sie unbewusst, diese Distanz zu überbrücken und sich auch emotional und spirituell der Mutter und dem Kind zu nähern. Ich werte dies als eine unterstützenswerte Aussage zu Kind und Frau, die keinerlei Häme verdient.

Was Männern aber in dieser Zeit immer noch fehlt, ist der Austausch mit anderen werdenden Vätern und auch der Rat und die Erfahrung älterer Väter, die diese in diesen Zeiten der Veränderung und des Übergangs begleiten könnten. Also bräuchten wir eigene Kurse nur für werdende Väter, in denen sie sich auf diesen neuen, spannenden und herausfordernden Lebensbereich vorberieten können.

Ach ja, eines noch: leider verschwindet der Vaterbauch nach der Geburt nicht von allein!

 

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