Wer sich wissenschaftlich mit Kriminalität beschäftigt, kommt am Thema Männlichkeit nicht vorbei. „Der Täter“ wird in Nachrichten und Unterhaltung, in der Tagesschau und danach im „Tatort“ in aller Regel männlich repräsentiert. Feministische Kommentatoren kritisieren zu Recht, dass „die Täterin“, schafft sie es denn einmal ins kollektive Bewusstsein, ungläubig bestaunt wird, wie ein Wesen von einem anderen Stern. Die Kriminalstatistik deckt sich in dieser Hinsicht leider mit der medialen Repräsentation. Täter ist also der Mann. Die überwiegende Mehrheit der Straftäter sind Männer. Dies gilt auch für Straftäter mit „F-Diagnosen“, medizinische Diagnosen aus dem psychiatrischen Formenkreis.
Erst seit dem Zeitalter der Aufklärung entwickelten sich „Wahnsinn“ und „Verbrechen“ schrittweise auseinander. Zuvor hatte man „Übeltäter“ und „Narren“ noch alle gemeinsam in einem Kerker an die Wand gekettet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ging man dazu über, die Straftäter in Straf-, die „Irren“ in Irrenanstalten zu stecken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand die medizinisch-naturwissenschaftliche Seelenheilkunde, die Psychiatrie. Den Einheitskerker gab es jetzt schon lange nicht mehr. Doch auch mehr als ein Jahrhundert, nachdem man begonnen hatte, Delinquente und Verrückte voneinander zu unterscheiden, war das Projekt nicht abgeschlossen, im Gegenteil. Die neue Psychiatrie beanspruchte die Deutungs- und Verfügungshoheit über mehr und mehr menschliche Verhaltensweisen, die zuvor ausschließlich Angelegenheit der Kirchen oder der Justiz gewesen waren; darunter natürlich auch solche, die entweder Straftaten waren, oder häufig im Zusammenhang mit Straftaten auftraten: Konsum von Alkohol und „Rauschgift“, allerlei abweichende Sexualpraktiken sowie generell Verhalten, das deutlich von dem abwich, was sozial erwünscht war. Die Kompetenzerweiterung der Medizin hatte auch zur Folge, dass sich bei vielen Menschen die Frage „Narr oder Übeltäter?“ aufs Neue stellte. Alle Kriminellen und „Sünder“ zu Kranken erklären, konnte oder wollte man nicht.
Um das neu eroberte Territorium dennoch nicht aufzugeben, unterschied man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts scharf zwischen „seelischer Krankheit“ und einer neuen Kategorie psychischer Beeinträchtigung: Der „Abnormen Persönlichkeit“ oder „Psychopathie“, merkwürdigen Zwischenbereichen zwischen Gesundheit und Erkrankung. Leidlich begründen konnte man diese Unterscheidung mit Hilfe der Biologie: „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“ hatte bereits Wilhelm Griesinger (1817-1868), der Nestor der modernen Psychiatrie verkündet. Die Psychosen, den „schizophrenen“ und den „manisch-depressiven“ Formenkreis rechnete man jedoch etwas willkürlich ebenfalls zu den Krankheiten, auch wenn man von deren neurobiologischen Ursachen noch nichts wusste. Einige der betroffenen Straftäter waren tatsächlich in diesem Sinne krank. Der weitaus größere Teil wurde jedoch als abnorm klassifiziert: Sie erhielten zwar eine Diagnose, zum Beispiel „asoziale, geltungssüchtige, haltlose oder explosible Psychopathie“, „Trunksucht“, „Morphinismus“ oder „perverse Veranlagung“? Man gestand ihnen auch durchaus zu, dass sie unter ihren Verhaltensweisen litten, und Kurt Schneider (1887-1967), die Koryphäe der Psychopathologie, schrieb 1923: „Psychopathische Persönlichkeiten sind […] Persönlichkeiten, die an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet.“ Aber da bei diesen Menschen körperlich nichts vorlag, gäbe es „also keinerlei sachliche Veranlassung, [sie] Krankhafte zu heißen.“ Dies galt auch für Menschen mit Suchtproblemen: „Wer säuft, der ist nicht krank, sondern haltlos wie ein Sexualverbrecher […] und sollte für sein Verhalten nicht auch noch mit einem Kuraufenthalt belohnt werden“, ließ noch 1968 ein Funktionär der privaten Krankenversicherungen öffentlich verlauten und befand sich damit auf einer Linie mit der alteingesessenen Psychiatrie in Westdeutschland. Wurden die „Abnormen“ strafbar, gingen sie ohne therapeutische Unterstützung ins Gefängnis, wie jeder andere auch. Nicht wirklich besser erging es jedoch auch schizophrenen Straftätern oder Menschen mit Hirnverletzungen, also den „richtigen Kranken.“ Die „gemeingefährlichen Irren“ wurden ebenfalls nicht in einem Krankenhaus untergebracht, sondern in kleinen psychiatrischen Trakten innerhalb der Strafanstalten. Diese unterschieden sich nicht wirklich von der restlichen Einrichtung. Weder die „abnormen“, noch die „kranken“ Straftäter hatten also etwas von ihrem „Patientenstatus.“ Unter der Naziherrschaft wurde dieser den Betroffenen sogar zum Verhängnis. Kranke wie Abnorme wurden zu Volksschädlingen. „Gewohnheitstrinker“ konnten als „Abartige“ zwangssterilisiert werden und auch für die „Psychopathen“ hatten die „ErbbiologInnen“ schon entsprechende Pläne ausgearbeitet. Tausende Menschen mit chronifizierten Psychosen wurden vergast. Heute weiß man, dass die Psychiater noch Jahre nach dem Krieg in den Anstalten Zehntausende Menschen planmäßig verhungern ließen.
Nach dem Krieg traten langsam aber sicher Disziplinen mit einer anderen Herangehensweise in Konkurrenz, mit der klassischen deutschen Psychiatrie: Durch die Forschung von Psychosomatik, Psychotherapie, Sozialpsychiatrie und neuer Suchtmedizin ließen sich die meisten psychiatrischen Krankheitsbilder ohne den Einfluss psychologischer und sozialer Faktoren nicht mehr erklären. Die alteingesessene Psychiatrie, die zudem tief in die NS-Krankenmorde verstrickt gewesen war, neigte sich ihrem Ende zu. Ärzte beschäftigten sich nun ganz selbstverständlich mit der Biographie und dem sozialen Umfeld von Menschen mit psychischen Leiden. Waren die „abnormen“ Straftäter denn nun doch noch schutzbedürftige Kranke geworden? Für eine kurze Zeit schien es sogar, als seien die Psychiater die Übeltäter, „Handlanger einer verbrecherischen Elite, Advokaten pathogener Familienstrukturen und entfremdender Arbeitsbedingungen.“ Zu dieser Überzeugung gelangte 1972 der Heidelberger Assistenzarzt Wolfgang Huber und verschrieb seinen Patienten nicht nur „intensive Lektüre von Marx und Engels“ sondern begann in seinem Haus Sturmgewehre zu horten „für die Revolution“, die „einzig sinnvolle Therapie.“ So radikal wie Huber, der für seinen Flirt mit der RAF in Stuttgart-Stammheim landete, sahen das freilich die wenigsten Ärzte. Aber dass die menschliche Persönlichkeit, also auch die von Straftätern in einem Wechselspiel aus psychischen, sozialen und biologischen Faktoren gebildet wird und es daher eine gewisse gesellschaftliche Verantwortung und einen therapeutischen Spielraum für diese Menschen gab, von dieser Einsicht gab es nun kein Zurück mehr.
Waren also nun auch die „abnormen“ Straftäter anerkannter Weise krank? Nicht ganz. Die biologisch orientierte Psychiatrie einigte sich mit den eher psychosozial orientierten Disziplinen auf den Oberbegriff „Seelische Störungen“, der ab 1968 mit der Einführung der ICD-8 als Oberbegriff sämtliche Leiden des heutigen F-Bereichs abdeckte. Die Trennung des Narren vom Übeltäter hatte einen unerwarteten (vorläufigen) Abschluss gefunden. Man musste also die Straftäter nicht mehr trennscharf scheiden, entweder in „Kranke“ oder „Böse“, um ihnen irgendeine Form von Therapie angedeihen zu lassen. An Ideen für solche sozialtherapeutischen Maßnahmen mangelte es im allgemeinen Reformfieber der 70er Jahre nicht. Von der Psychiatriereform selbst profitieren bis zum heutigen Tage Millionen Menschen. Für Straftäter mit psychischen Störungen konnte man das zumindest bis vor kurzem nicht behaupten. Der Forensiker Norbert Leygraf erklärte 1988 die Psychiatriereform in diesem Sektor im Wesentlichen für gescheitert. Wie die Situation sich heute darstellt, entzieht sich mir als Historiker der Kenntnis. Aber 300 Jahre, nachdem der französische Psychiater Pinel (1745-1826) die „Irren“ von ihren Ketten befreite, und es im Wesentlichen gelungen ist, den „Narren“ aus dem Kerker zu befreien, stellt sich immer noch die Frage: Gilt dies auch für den männlichen, den externalisierenden „Narren“?
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