Männer mit entZweiter Heimat – Teil 2

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Nun folgt der zweite Teil zu den Männer mit entZweiter Heimat mit Teilen aus meinem Buch.

„Für den Arzt heißt das, …

… dass es meist nicht gelingen wird, direkt nach Erkrankungen und Beschwerden zu fragen. Erst einmal ist es für den Mann wichtig, dass er überhaupt ein klares Signal bekommt, dass er glaubwürdig krank ist. Denn das ist sein Anliegen, wenn er mit Schmerzen oder körperlichen Symptomen zum Arzt oder Gesundheitsförderer geht.

Natürlich gibt es viele Fälle, in denen das Leiden offensichtlich ist: eine Schnittwunde, ein Beinbruch. Dann kann die Behandlung zügig voranschreiten. Aber häufig wird der Arzt trotz der laut betonten Schmerzen nicht wirklich die passende Ursache finden. Und nur im Gespräch kann er die tieferen Gründe für das Krankheitsempfinden entdecken.

Den türkischen Hintergrund besser verstehen lernen

Für dieses Gespräch ist es allerdings hilfreich, ein wenig mehr über das Leben und die Lebenserfahrung der Männer mit türkischem Migrations- hintergrund zu wissen. Und sich auch ein Stück weit in den kulturellen Prägungen auszukennen. Auf den nächsten Seiten werden Sie einiges über die Hintergründe der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund erfahren. Vermutlich werden Sie daraufhin so manche Begegnungen mit türkischstämmigen Männern in einem anderen Licht sehen und besser nachvollziehen können, was mit diesen Männern wirklich los war. Weiter erfahren Sie etwas über die verschiedenen Migrantengenerationen, über die Spannungsfelder, in denen Männer mit türkischem Migrationshinter- grund leben, und darüber, wie diese Umstände Ursache für viele psychosomatische Beschwerden und der Grund für eine gewisse Ablehnung von Selbstfürsorge sein können.

Natürlich ist jede Lebensgeschichte individuell. Aber doch gibt es einige Gemeinsamkeiten, die diese Männer prägen und die aber häufig vom deutschen Gegenüber ignoriert werden.

Migrationshintergrund „Türkei“ kann Verschiedenes bedeuten

Mehmet Altun, 54 Jahre alt, erklärt die großen Unterschiede im Verhalten und Empfinden der verschiedenen Generationen von Migranten: „Die erste Generation ist die Generation, die alleine nach Deutschland gekommen ist. Das sind unsere Eltern. Sie sind als Einzelpersonen gekommen, in der Regel war es zuerst der Vater. Später kam die Mutter nach. Selten war es so, dass erst die Mutter kam. Beide hatten in Deutschland niemanden.

Die zweite Generation sind eigentlich die Menschen, die später nachkamen, die zu den Eltern gezogen sind beziehungsweise zu dem Ehepartner. Ich gehöre zum Beispiel zur zweiten Generation, weil mein Vater bereits hier war, als ich mit 18 Jahren nach Deutschland kam. Ich hatte hier eine Bezugsperson.

Die dritte Generation sind unsere Kinder, die hier geboren sind. Andere Generationen gibt es nicht. Unsere Enkelkinder sind Deutsche. Man nennt sie manchmal die vierte Generation, aber das ist eigentlich nur mathematisch.“

Alle drei Generationen haben eine völlig unterschiedliche Sozialisation erfahren, die sich stark auf ihr Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen, aber auch auf ihren Umgang mit Themen wie Selbstfürsorge, Gemeinschaft und Gesundheit auswirkt.

Die erste Generation: Fremdenfeindlichkeit in den Betrieben und Einsamkeit in der Baracke

Mehmet Altun: „Wie mit türkischen Kollegen der ersten Generation umgegangen wurde, also mit den Männern, die alleine nach Deutschland gekommen sind, um zu arbeiten, ist teilweise wirklich nicht auszuhalten. Die Fremdenfeindlichkeit, so heißt in Deutschland Rassismus, war unerträglich. Daher kann ich die erste Generation sehr gut verstehen, warum sie Deutschland nicht gemocht haben, warum sie immer diese Vorurteile den Deutschen gegenüber hatten. Sie wurden hier nur erniedrigt, sie wurden wirklich „missbraucht“. Sie wurden nie als Menschen gesehen, immer hieß es: ‚Geh hin, mach das, Ali!’ Immer diese Sprüche. Teilweise hört man die heute noch. Diese Männer mussten auch immer die Drecksarbeit machen, schwere Arbeit, und verdienten das wenigste Geld. Sie lebten total ärmlich in Baracken und hatten nichts. Keine sozialen Kontakte, keine Kultur, kein Sport. Sie blieben nur unter sich. Sie lebten in einer ganz, ganz kleinen Welt.

Natürlich tat das weh. Aber sie haben über ihren Schmerz nicht geredet. Du bist ein Mann, du zeigst keinen Schmerz. Sie litten natürlich unter der Trennung von der Familie und vielem anderen. Aber sie haben das auch anders wahrgenommen. Sie hatten ein Ziel: Ich arbeite zwei Jahre, drei Jahre, dann gehe ich zurück. Aber nachdem die Frauen gekommen sind, die Mütter ihrer Kinder, wurde alles anders. Die Frauen kamen mit anderen Vorstellungen. Sie wussten, sie kehren nicht nach zwei Jahren zurück, sonst wären sie nicht zum Ehemann gekommen.

Für das Paar wurde es dann schwer. Der Mann wollte, so schnell es geht, zurück in die Türkei, sobald er in Rente ist. Die Frau sah ihren Lebensmittelpunkt immer stärker in Deutschland. Meine Eltern gingen beispielsweise zurück in die Türkei, als mein Vater mit 55 Jahren über einen Sozialplan im Stahlwerk aufhörte. ‚Zu Hause’ war mein Vater dann glücklich, meine Mutter unglücklich.“

Die erste Generation Männer mit türkischem Migrationshintergrund ist in den Betrieben selten geworden. Aber deren Erfahrungen und der heutige Lebensstil wirken sich direkt auf die nächste Generation aus. Denn türkische Familien bleiben in der Regel ein Leben lang verbunden. Die erwachsenen Kinder fühlen sich also durchaus mitverantwortlich, dass es der Mutter und dem Vater gut gehen soll. Viele Männer der zweiten Generation haben insofern im Hintergrund eine Menge Spannungen in der Familie auszuhalten und teilweise auch auszugleichen. Sie fühlen sich moralisch verpflichtet, die Eltern in der Türkei zu besuchen oder leiden mit dem Elternteil mit, dem es nicht gut geht.

Die zweite Generation: Kulturschock und Kofferkind

Mehmet Altun: „Bei den Jungen und Mädchen der zweiten Generation kommt es drauf an, in welchem Alter sie hergekommen sind. Da gibt es nicht mehr so völlig verbindende Gemeinsamkeiten. Wenn sie als Kleinkind gekommen sind, hatten sie wohl wenig Schmerzen. Wenn ein Kind mit neun Jahren kam, waren die Schmerzen groß. Wenn sie, so wie ich, erst mit 18 oder 19 Jahren kamen, war der Sozialisierungsprozess der Jugend schon fast abgeschlossen.

Für die Mädchen ist es besonders schwierig, weil sie in der Türkei mehr Freiheiten hatten. Und dann kommen sie nach Deutschland und die Eltern sind extrem konservativ, weil sie Angst haben vor der Gesellschaft, und versuchen, ihre Kinder, vor allem die Mädchen, zu schützen. Die Mädchen dürfen teilweise nicht mal das Haus verlassen oder die Wohnung. Und nach der Schule müssen sie sofort nach Hause kommen. Das ist für sie sehr schwer. Denn das kennen sie aus der Türkei gar nicht.“

In gewisser Weise hat sich auf diese Weise in den Gemeinschaften in Deutschland sogar ein Konservatismus entwickelt, der in der Türkei längst nicht mehr tonangebend ist. Gesundheitsförderer Yasar Fincan: „Die Gesellschaften haben sich schon zum Großteil auseinander gelebt. Die Gesellschaft in der Türkei ist viel weiter als die Gesellschaften, die sich im Ausland befinden.“

Viele türkische Kinder der zweiten Migrationsgeneration sind als „Kofferkinder“ aufgewachsen. Sie werden so genannt, weil sie aus dem Koffer gelebt haben. Das heißt, sie kamen mit den Eltern her und blieben vielleicht ein Jahr. Dann meinten die Eltern, dass hier kein guter Umgang für die Kinder ist, und entschieden, die Kinder zur Erziehung doch in die Türkei zu schicken. Also gingen die Kinder wieder zurück, damit sie in der Türkei die türkische Sprache lernen und zur Schule gehen. Zwei Jahre später haben sie gesehen, dass es so auch nicht geht und haben die Kinder wieder hergeholt. Hin und her. So entstand eine heute noch nicht zu unterschätzende Zerrissenheit – vor allem bei den Jungen und heutigen Männern, die nun Mitte, Ende Vierzig sind.

Viele Jungen mussten schnell erwachsen werden und erlebten ihren Vater kaum

Mehmet Altun: „Ich habe meinen Vater eigentlich nie erlebt. Als mein Vater nach Deutschland ging, war ich sieben Jahre alt. Wir haben ihn nur einmal im Jahr gesehen. Er kam für fünf, sechs Wochen her, je nachdem wie viel Urlaub er hatte. Aber selbst wenn er da war, haben wir von ihm wenig gesehen, denn er hatte andere Verpflichtungen. Als Mann kommst du aus Deutschland zurück in die Türkei, bringst deine Geschenke mit und musst zuerst einmal zu deiner Schwester, deiner Tante, Onkel und der restlichen Großfamilie. Mein Vater war nur unterwegs mit meiner Mutter, Familie besuchen beziehungsweise andere Familien kamen ihn besuchen und somit hatte er keine Zeit für uns, seine Kinder. Wir haben kaum etwas von meinem Vater gehabt. Er hat kaum etwas von unserer Entwicklung gesehen. Die Bindung zu meiner Familie, und vor allem zu meiner Mutter und meinen Geschwistern, war enorm groß. Ich war praktisch der Vater.“

Die Jungen aus der zweiten Generation mit türkischem Migrationshintergrund wurden also oft sehr schnell zu Männern und Oberhäuptern einer Familie. Sie waren in gewisser Weise dazu gezwungen, „multipotent“ zu sein. Denn sie waren Sohn, Vater, Ansprechperson – weil der andere nicht da war. Psychotherapeut Sahap Eraslan nimmt an, dass türkische Männer genau deshalb nicht selten mit Mitte/Ende 40 psychosomatische Beschwerden entwickeln – eine späte Reaktion auf die frühe Belastung.

Die dritte Generation: Wohin gehören wir?

Yasar Fincan kommt bei der Münchener Stadtentwässerung vor allem mit Männern der zweiten und dritten Generation zusammen – und sieht große Unterschiede: „Die zweite Generation, also meine Generation, spricht ein sehr, sehr gutes Deutsch. Das Türkisch ist dafür nicht mehr ganz so gut. Sie wissen, woher sie kommen und wo sie dazugehören möchten oder wo sie sich mittlerweile wohlfühlen. Sie sind ein Teil davon. Dann gibt es die dritte Generation. Ein überwiegender Teil spricht schlechtes Deutsch und schlechtes Türkisch, weil sie nirgends dazugehören. Das ist ein Versäumnis der zweiten Generation, also meiner Generation, und der Generation meines Alters der Deutschen, dass diesen Jugendlichen nicht das Gefühl dafür gegeben wurde, was sie eigentlich darstellen. Die Kinder werden hier geboren, gehen in den Kindergarten, gehen in die Schule und irgendwann wird denen vermittelt, du sprichst zwar Deutsch, aber du siehst anders aus, du ernährst dich anders, du gehörst nicht dazu.“

Die Erfahrungen der Menschen mit Migrationshintergrund sind also völlig unterschiedlich. Was sie jedoch eint, ist die ständige Auseinandersetzung – bewusst und unbewusst – mit der deutschen Kultur. Und sei es, dass das Verständnis von Gemeinschaft zwischen der kollektiv orientierten türkischen Kultur und der individuell geprägten deutschen Kultur zu Reibungen führt.

Unterm Strich können dadurch viele Kränkungen, Enttäuschungen und Missverständnisse entstehen, die viele Menschen mit türkischem Migrationshintergrund belasten.

Die immer noch unterschwellige Fremdenfeindlichkeit im betrieblichen Umfeld und eine gewisse Ignoranz der Deutschen gegenüber den Neubürgern aus der Türkei führen zusätzlich zu Kränkungen.

Sahap Eraslan beschreibt einige erhellende Zusammenhänge zwischen dem kulturellen Hintergrund und typischem Verhalten, mit dem sich Ärzte und Gesundheitsförderer in Deutschland konfrontiert sehen.“

Mehr dazu im bald folgenden dritten Teil! Wie immer wünsche ich Ihnen eine gesundheitliche Woche.

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