„Heute ist vom unvollkommenen Körper zu sagen, dass jeder selbst schuld ist, wer ihn hat“ (Elfriede Jelinek)
In der August-Ausgabe 2016 des Bundesgesundheitsblatts wurde ein Schwerpunkt auf Jungen- und Männergesundheit gelegt. Das Journal wird von mehreren Bundesinstituten heraus gegeben, u.a. vom Robert Koch-Institut (RKI) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Daher wird die August-Ausgabe auch mit einem Editorial von Anne Starker und Anke-Christine Saß vom RKI eingeleitet. Die beiden Forscherinnen waren auch maßgeblich an der Erstellung des RKI-Berichtes „Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland“ beteiligt und fokussieren in der Einleitung vor allem auf die Gesundheitsressourcen und Schutzfaktoren von Jungen und Männern – entsprechend sei auch die Auswahl von Artikel für die Ausgabe des Bundesgesundheitsblatts getroffen worden.
In der Ausgabe enthalten sind u.a. Beiträge von Martin Dinges (Männergesundheit im Wandel: Ein Prozess nachholender Medikalisierung), Lars Eric Kroll (Erwerbsarbeit, Familie und Gesundheit bei Männern im erwerbsfähigen Alter in Deutschland – Ergebnisse der GEDA-Studien 2009 bis 2012) oder Thomas G. Grobe (Teilzeitarbeit und Gesundheit von Männern – Ergebnisse auf der Basis von Routinedaten einer Krankenkasse).
Besonders spannend fand ich persönlich den Artikel vom Soziologen Prof. Stefan Selke. Prof. Selke ist Prodekan an der Fakultät Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft der Hochschule Furtwangen und darüber hinaus als Autor und Redner aktiv – auf seiner Website sind seine vielfältigen Tätigkeiten beschrieben (http://stefan-selke.de/).
Der Artikel hat den Titel „Quantified Self statt Hahnenkampf – Die neue Taxonomie des Sozialen“ und beschäftigt sich im weitesten mit der digitalen Selbstvermessung und –optimierung. Zu Beginn werden die verschiedenen Begriffe wie „Self-Tracking“ oder „personalisierte Informatik“ eingeführt, die der Autor unter dem Begriff „Lifelogging“ subsumiert. Der Begriff versammelt Formen der Selbstvermessung, die von Gesundheitsmonitoring über Orts- und Anwesenheitserfassung bis hin zur Leistungsvermessung am Arbeitsplatz reichen. Er unterscheidet innerhalb des Lifelogging sechs grundlegende technikinduzierte Überformungen des Lebens: „tracking, measurement, analyses, tutorials, enhancement und control“. Gemeinsam ist allen Begriffen die Einsicht, dass das soziale Handeln und Sein durch digitale Medien rationalisiert wird. Dieser Ansatz hat auch Einfluss auf das Verständnis von Prävention. Prävention wird immer mehr als Frage des Lebensstils verstanden und weniger als Frage von Umständen oder Verhältnissen. So wird der/die Einzelne zum Manager seiner/ihrer Gesundheit. Durch diese Technologien setzt gesellschaftlicher Wandel ein und die Art des Zusammenlebens wird sich langfristig ändern. Denn man kann sich immer seltener der Überwachung und den damit verbundenen kollektiven Zurechnungsprozessen entziehen. So verschiebt sich durch diese extreme Form der Rationalität das Menschenbild in Richtung der Sozialfigur des fehlerhaften Menschen (oder der fehlerhaften Maschine?). Die aktuelle Konvergenz von Präventionslogik und Selbstvermessungstechnologien fördert ein neues ungleichheitsproduzierendes Organisationsprinzip des Sozialen. Daraus hat Prof. Selke die These der rationalen Diskriminierung abgeleitet, die im Zentrum des Artikels steht.
Methodisch wird hier eine soziologische Perspektive eingenommen und die These mit ethnografischer Feldforschung in den Laboren der Entwickler und der Teilnahme an zahlreichen Debatten um das Thema geprüft. Auf die Ergebnisse werde ich hier nicht allzu tief eingehen sondern eher das Fazit der Arbeit darstellen.
Laut Prof. Selke beschwört die Selbstvermessung ein neues Denken und Sehen und es wird ein mechanischen Menschenbild gefördert. Daraus folgt eine starke Betonung der Eigenverantwortung und gesellschaftliche Probleme werden zur Privatsache verklärt. Strukturelle Ursachen wie Gewalt oder Armut treten so in den Hintergrund. Das Individuum wird zu einem kalkulierbaren Objekt, welches administriert und auch diskriminiert werden kann. „Menschenwürde aber lässt sich nicht rational organisieren“ so Selke. Wenn also das soziale Miteinander vor dem Hintergrund der digitalen Vermessung und Rationalität neu definiert wird, besteht die Gefahr, dass Abweichungen, Verdächtigungen, Risiken, Defizite und vor allem Kostenfaktoren in den Mittelpunkt rücken.
Der abschließende Satz trifft diese Entwicklung meiner Meinung nach sehr gut: „Um in der neuen versachlichten Realität zu leben, braucht es ein erweitertes Kompetenzspektrum, das anerkennt, dass nicht alles, was zählbar ist, zählt, und nicht alles, was zählt, zählbar ist.“
Quelle: Selke, S. (2016). Quantified Self statt Hahnenkampf. Die neue Taxonomie des Sozialen. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, 59(8). Quelle: http://link.springer.com/article/10.1007/s00103-016-2381-0
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