Migration ist jetzt und wird wahrscheinlich auch noch die nächsten Monate und Jahre ein allseits präsentes Thema für uns hier in Deutschland bzw. in der westlichen Welt sein. Verzweifelte Menschen werden kommen, bei uns bleiben wollen und irgendwie zu integrieren sein. Die Geschichte der Migration ist schon immer auch eine Geschichte der Männer. So häufig sind und waren es die jungen „starken“ Männer, die von der Familie vorgeschickt wurden, um das neue Land zu erkunden. Nur sie konnten diese anstrengende Erstreise ins Ungewisse auf sich nehmen, nahm man an. Anhand der deutsch-türkischen Migrationsgeschichte möchte ich nun hier und in weiteren folgenden Blogartikeln zu diesem Thema aus meinem Buch „Männer im Betrieb(s)Zustand“ berichten. Wir könnten daraus für zukünftige Fragestellungen lernen:
„Männer mit Migrationshintergrund: Der kulturelle Hintergrund beeinflusst die Gesundheit stark
Warum spielt die Herkunft eine so wichtige Rolle, wenn es um die Männergesundheit geht? Weil wir erst die Männer verstehen müssen, um mit ihnen ins Gespräch und in Kontakt kommen zu können. Dazu wird sich nachfolgend auf eine Herkunftsgruppe beschränkt: auf Männer mit türkischem Migrationshintergrund. Es werden Experten zu Wort kommen, die seit vielen Jahren mit Männern aus verschiedenen Kulturen arbeiten. Sie werden die Besonderheiten einordnen und interpretieren, damit wir diese Gruppe besser verstehen können.
Wer sich mit der „Herkunft“ auseinandergesetzt, müsste dies streng genommen auch mit der sozialen Herkunft tun. Denn es macht einen Unterschied, ob Man(n) aus einer unteren, mittleren oder einer oberen Sozialschicht kommt. Oft kann alleine die Sozialschicht über Gesundheit und Krankheit entscheiden (was leider schon häufig nachgewiesen wurde).
Als Werksarzt im Bremer Stahlwerk kam ich täglich mit der türkischen Kultur in Berührung, denn ich hatte Kollegen aus der sogenannten zweiten Migrationsgeneration – das sind die Söhne der ehemals türkischen Einwanderer. Als ich noch im Krankenhaus arbeitete, habe ich die meist in großen Gruppen auftretenden, türkischstämmigen Patienten und Angehörigen nie verstanden. Auch fragte ich mich: Warum treten die immer in Gruppen auf? Warum ist das subjektive Leiden so groß? Was soll das alles? Damals reagierte ich mehr mit Abwehr und Sarkasmus. Ich glaube, vielen Kollegen in der Klinik ging und geht es heute noch ähnlich.
Ein Netzwerk für die Integration
Als Werksarzt ist es aber meine zentrale Aufgabe, die Mitarbeiter zu erreichen. Ungewöhnliches abzuwehren oder Eigenheiten und Fragen, die nicht verstanden werden, einfach zu ignorieren, kann nicht funktionieren. Außerdem habe ich als Werksarzt auch etwas mehr Zeit, um mich mit Mitarbeitern zu unterhalten. In dieser Situation fiel mir auf, dass ich das Verhalten der Männer mit türkischem Migrationshintergrund oft nicht verstand. Als ich wieder einmal diese Erfahrung machte, kam ich eher zufällig mit einem Kollegen ins Gespräch, der selbst einen türkischen Migrationshintergrund hat: Mehmet Altun, arbeitsmedizinischer Assistent, Vorsitzender eines Integrationsvereins und Träger des Bundesverdienstkreuzes. Er konnte mir in fünf Minuten erklären, warum seine Landsleute sich so und so verhalten. Er wusste: Im Hintergrund ihres Agierens und sogar in der Beschreibung von gesundheitlichen Beschwerden schwingt immer ihr kultureller Hintergrund mit. Und wenn man von diesem keine Ahnung hat, versteht man sie schlicht nicht. Mir wurde klar, dass ich an dieser Stelle eine große Wissenslücke hatte, die meine Tätigkeit als Werksarzt zudem erheblich behinderte. Ich beschloss, diese Lücke zu schließen.
Ich blieb mit Mehmet Altun im Dialog und wir gründeten das sogenannte „Netzwerk Integration“. Dies sollte uns helfen, Männer mit Migrationshintergrund besser zu verstehen. Das Netzwerk setzte sich aus Werksärzten, Sozialarbeitern, Führungskräften und der Personalabteilung zusammen. Mehmet Altun lehrte uns in Migration und türkischer Kultur. Anschließend diskutierten wir Fälle von türkischstämmigen Mitarbeitern, die Probleme hatten, im Werk zurechtzukommen. Uns wurde klar: Viele dieser Männer haben nicht nur in Kindheit und Jugend viel durchgemacht, sondern auch noch als Erwachsene. Sie erlebten eine Zerrissenheit zwischen zwei Ländern, Trennungen von den Eltern, Ausländerfeindlichkeit und vieles mehr. Wer um diese Erlebnisse weiß, auf die viele türkische Männer zurückblicken, erhält ein Gefühl dafür, was hinter so manchen gesundheitlichen Beschwerden stecken könnte. Mehmet Altun wird auf den nächsten Seiten mehrmals zu Wort kommen, ebenso wie Sahap Eras- lan aus Berlin-Kreuzberg. Der türkischstämmige, niedergelassene Psychotherapeut hält immer wieder psychologische Vorträge über seine Landsleute. Des Weiteren kommt der kurdischstämmige Gesundheitsförderer der Münchener Stadtentwässerung, Yasar Fincan, zu Wort.
Das Verhalten ist anders
Der kulturelle Hintergrund beeinflusst den Menschen in all seinem Tun und Handeln. Auch wie er über Krankheiten spricht, Beschwerden äußert, oder ob Leiden überhaupt thematisiert werden, wird von seiner Kultur beeinflusst. Wir Gesundheitsförderer sehen oft nur das Verhalten und sind vielleicht irritiert, weil es vom Verhalten deutscher Männer abweicht. Durch die vertiefende Beschäftigung mit der Kultur wird jedoch vieles verständlich – und es entstehen völlig neue Möglichkeiten, um miteinander zu kommunizieren, in Kontakt zu kommen und überhaupt ein hilfreiches Verhältnis aufzubauen.
Das mediterrane Schmerzsyndrom
Den Umgang mit Schmerz von Männern mit türkischem Migrationshintergrund fand ich beispielsweise schon immer auffällig anders als bei deutschen Männern. Bei den türkischen Männern wird gejammert und lamentiert – und am Ende finde ich gar kein großes Problem. Was ist das? – fragte ich mich jahrelang. Diese Frage gab ich an Sahap Eraslan weiter. Und seine Antwort hat vieles erhellt: „Die türkische Gesellschaft ist traditionell eine kollektive Kultur. Und über lange Zeit hinweg gab es kein modernes Medizinsystem, das Krankheiten erfasst und sofort klarstellt, wer krank ist und wer nicht.
Insofern mussten Menschen, wenn sie sich nicht wohlfühlen, laut und deutlich zeigen, dass es ihnen nicht gut geht. Denn nur wenn sie glaubhaft in der Gruppe vermitteln können, dass sie nicht arbeitsfähig sind, werden es alle akzeptieren und mittragen, dass sie nicht zur Arbeit gehen. Sie werden den Kranken sogar zu Hause mit Hingabe pflegen. Das Kollektiv stützt den Kranken, wenn es anerkennt, dass der derjenige krank ist. Und krank zu sein vermittelte sich vor allem über Schmerzen. Wenn ich Schmer- zen habe, bin ich krank. Habe ich keine Schmerzen, bin ich gesund. So könnten die Zusammenhänge in aller Kürze zusammengefasst werden. Schmerzen zu empfinden, wenn man krank ist, und diese auch zu äußern und darüber zu jammern, ist also tief kulturell verankert. Und dieses Verhalten nehmen die Männer auch mit in die neue Lebenswelt Deutschland.“
Ein Mann mit türkischem Hintergrund, der über Schmerzen klagt, spricht also in allererster Linie darüber, dass er sich nicht gut und nicht arbeitsfähig fühlt. Was genau dahinter steckt – darauf gibt der Hinweis auf Schmerzen noch gar keine Auskunft. Hier ist der Arzt gefordert, im Gespräch genauer herauszufinden, um welche konkreten Beschwerden und Probleme es wirklich geht.
Psychische Probleme sind dabei in der türkischen Gesellschaft stark tabuisiert. „Niemand würde zugeben, dass er psychologische Probleme hat, dass er zum Beispiel mit Frau oder Kindern Probleme hat. Seelische Probleme existieren nicht. Sogar in der Familie wird darüber nicht gesprochen. Wenn es doch jemand tut, bekommt er einen Stempel, gilt als verrückt und schwach“, weiß Mehmet Altun. Auch das Thema „Sexualität“ wird stark tabuisiert. „Niemand spricht über sexuelle Schwierigkeiten oder Erkrankungen. In den jüngeren Generationen wird es etwas weniger, aber die Tendenz ist immer noch sehr ähnlich.“
Yasar Fincan, Gesundheitsförderer bei der Münchener Stadtentwässerung, sieht diese Zusammenhänge täglich im Betrieb: „Die Leute, die bei uns krank werden, insbesondere im Migrationsbereich, sind Kollegen zwischen 40 und 50. Natürlich ist die Tätigkeit im Kanal eine schwere Tätigkeit. Der Rücken leidet dadurch, muskuloskeletale Erkrankungen sind in diesem Bereich sehr häufig. Aber auch die seelischen Krankheiten nehmen zu. Rücken und Skelettkrankheiten sind sichtbar, die sind nicht zu leugnen. Da ist auch die Versorgung kein Problem. Aber die seelischen Krankheiten werden geleugnet, weil sie im Verständnis der Kollegen mit Schwäche zu tun haben.“
Für den Arzt heißt das,…“
Fortsetzung folgt in Bälde! Wie immer wünsche ich Ihnen an dieser Stelle eine gesundheitliche Woche.