Der 180° – Emotionsdreher

COLOURBOX14965425 KopieIn meinem letzten Artikel hatte ich eine Fortsetzung zum Thema „festes Emotionsrunterschlucken“ angekündigt. Wieder möchte ich aus der Praxis berichten. Im Rahmen meiner ernährungsmedizinischen Abnehmsprechstunde sah ich vor vielen Monaten einen Mann mit Migrationshintergrund aus der 2. Generation. Ich kenne diesen Mann schon seit geraumer Zeit. Er versuchte seit Monaten verzweifelt abzunehmen und kam mit seinen Bemühungen nicht recht voran. Er berichtete immer nur davon, dass er regelmäßig nachts aufwache und dann (fr)essen müsse. Dieses „Nightly Eating“ schob er auf seinen Schichtarbeitsrhythmus und kam und kam einfach nicht davon weg. Da es schwierig war an ihn ranzukommen, brauchte es ein paar Sitzungen, um sein wahres Thema zu erörtern. Mir fiel in den ersten Gesprächen auf, dass nichts richtig an ihn herankommen konnte. Die Arbeit wäre super und zu Hause wäre auch alles gut. Das wirkte irgendwie übertrieben und unrealistisch.

Durch intensives biographisches Erfragen kamen wir dann „endlich“ auf das Jahr 1996. Neben seiner Hochzeit, welche als Auslöser für seine 60kg Gewichtszunahme gelten könnte, kamen wir auf seinen besten Freund. Die Beziehung als Auslöser konnte man auszuschließen, weil der Mann hier kaum etwas wesentlich Negatives berichten konnte.

Wie immer wurde das entscheidende Männerthema nur nebensächlich genannt. Entweder kommt so etwas in einem verschachtelten Nebensatz raus oder auf dem Weg nach draußen, kurz vor öffnen der Sprechzimmertür. Warum wir Männer da so „Unterberichter“ sind, werde ich in einem der nächsten Artikel beschreiben.

Was war nun mit seinem Freund passiert? Der Freund war 1996 gestorben, auf tragische Art und Weise! Wie so häufig musste ich ihm jedes Wort und jeden Satz aus der Nase ziehen. Dieses etwas andere Zuhören ist auch männertypisch. Erst berichtete er ganz nüchtern von diesem Mann, seinem besten Kumpel zu der Zeit. Je mehr er ins Reden kam, wurde mir und ich denke auch ihm deutlich, wie sehr er diesen Freund vermisste. Erst auf massives Nachfragen konnte er die Geschichte des Todes erzählen. Die beiden waren damals „gut“ unterwegs. Der Mann prahlte damit, dass er zusammen mit seinem Freund im Fussballstudion durch aggressives Verhalten für Spielabbrüche gesorgt hätte. Außerdem hätten die beiden trotz ihres islamischen Glaubens viel getrunken und sich häufig mit anderen geprügelt. Er wäre damals an ganz anderer Mann gewesen. Er hätte alles ausgetragen und sich nichts gefallen lassen. Immer zusammen mit seinem Kumpel. Typisch Halbstarke.

Wir kamen dann zu seinem wegweisenden Trauma, welches dafür gesorgt hatte, dass er sich um 180° gedreht und vergessen hatte, seine männlichen Emotionen rauszulassen, auch wenn diese zum Teil negative Auswirkungen auf andere hatten. Der Freund war nachts gegen 2h in einer Diskothek von einem anderen Mann niedergestochen worden, direkt neben ihm. Er war live dabei gewesen und hatte Glück, dass er nicht auch niedergestochen wurde. Dieses tödliche Trauma saß nun seit fast zwanzig Jahren in seinem Körper. Der Mann, der mir gegenüber saß, änderte sich durch dieses Geschehen massiv. Er trank keinen Alkohol mehr, wurde gläubiger, stritt sich nicht mehr mit anderen und begann alles Emotionale nicht mehr an sich ranzulassen und schluckte es einfach runter. Er hatte nach diesem Trauma nie mit jemand Professionellen darüber gesprochen und eine wesentliche Verarbeitung dieses Traumas hatte auch nicht stattgefunden.

Warum sehe ich nun den Zusammenhang zu seiner massiven Gewichtszunahme? Der Mann war in seiner Jugend und im jungen Erwachsenenalter vollkommen normalgewichtig, bis zu diesem Ereignis. Man könnte ja auch vermuten, dass er aufgrund der geschlossenen Ehe 1996 so zugenommen hätte. Verheiratete Männer sind zwar übergewichtiger als unverheiratete, aber ich denke nicht, dass bei diesen das Gewicht so explodiert, wie bei diesem Mann.

Man könnte auch denken, dass die von ihm durchgeführte vollkontinuierliche Schichtarbeit zu solch einem Gewichtszuwachs geführt hätte. Zwar ist Schichtarbeit ein starker Risikofaktor für Gewichtszunahme, aber nicht in diesem Ausmaß.

Warum nun diese Geschichte hier? Dieses emotionale Runterschlucken, ob flüssig oder fest, nach einem traumatischen Ereignis ist meiner Einschätzung nach nicht selten männerspezifisch. Ein Mann, der sein Emotionsleben vollkommen verändert, fast unbewusst einen 180°-Turnaround unternimmt, hat es verlernt, „suffizient“ mit Emotionen umzugehen. Wird dieses Trauma nicht bearbeitet, kann dieser Mann nicht abnehmen und wird das Erlebte auch nicht verarbeiten. Ich riet ihm, wieder anzufangen, seinen Gefühlen und Emotionen einen Raum zu geben. Ob dies allerdings nach so langer Zeit geht, weiß ich nicht.

Am Ende stelle ich noch eine Vermutung auf, die natürlich schon etwas hypothetisch ist. Dieser Mann wacht Nacht für Nacht auf, meist genau zu der Zeit, an dem sein Freund erstochen wurde, gegen 2 Uhr. Dann hat er diesen Hunger und muss etwas essen, und machmal wird es auch zur Fressattacke. Warum ist das wohl so? Wie immer wünsche ich Ihnen eine gesundheitliche Woche.

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