Wann ist ein Mann ein Mann?

half stage shaving the face. photo concept

Zum European Song Contest (ESC) war in der Zeitung ein großes Oberkörper-Foto von Conchita Wurst zu sehen, der bärtigen Tansvestit/in und Gewinner/in des letzten ESC. Sie schaut freundlich nach vorne, die langen braunen Haare nett drapiert und die blanken Arme nach vorne gedreht – eine insgesamt ganz weibliche Pose. Meine Kinder (Mädchen, 6 und 9 Jahre alt) sehen das Bild und die Kleine von den beiden fragt mich: „Papa, ist das da ein Mann oder eine Frau?“ – und auch die Große guckt interessiert, aber ratlos. Und nu? Vortrag über biologisches Geschlecht, soziales Geschlecht, sexuelle Orientierungen, Ehe und Familie, Travestie, Transsexalität, Kunst… zum Glück fällt mir noch was Besseres ein: „Was meinst Du denn?“. Beide sind sich spontan einig: „Mann“. Aha! Aber warum? Klare Antwort „wegen dem Bart“. Ich ergänze kurz, dass es ein Mann ist, der sich als Frau verkleidet und als Frau singt und das so gut macht, dass er einen großen Preis gewonnen hat. Damit war das Interesse am Thema bei den Kindern auch erledigt. Nur bei mir nicht: Warum schlägt der Bart denn weibliche Haare, Brüste, Kleidung und Pose? Ich jedenfalls trage, als nächster männlicher Prototyp für meine Kinder, keinen Bart – die männliche Verwandtschaft und die meisten meiner Freunde auch nicht. An Vorbildern liegt es also nicht (auch wenn ich davon ausgehe, dass die Kinder schlicht noch keine Frau mit Bart gesehen haben).

Wäre also der nächste Blick in die Popkultur: Grönemeyer hat in „Männer“ viele Aspekte von Männlichkeit behandelt – vom Bart keine Rede, obwohl er sich immerhin über „dünnes Haar“ auslässt. Leider fallen mir keine anderen Klassiker in dem Bereich ein – Ergänzungen gerne unten als Kommentar! Die nächsten Themenfelder wären Geschichte und Wissenschaft – dafür nehme ich gerne Wikipedia und meinen „Neuer Brockhaus“ von 1938. In Wikipedia wird über den Bart im Lauf der Geschichte berichtet – seit 100 Jahren abgesehen von religiösen Vorstellungen (orthodoxe Juden und Muslime) ein rein modisch definiertes Thema. Im klassischen Lexikon heißt es „langer Haarwuchs beim Mann an Lippen, Wangen, Kinn und Hals (-> Barttracht). Die Bartentwicklung ist bei den einzelnen Menschenrassen verschieden stark. Schwachen Bartwuchs haben z. B. Indianer und Malaien.“ – nicht sehr erhellend.

Ansonsten scheint der Bart ja nicht so gut gelitten: „Der Bart muss ab“, heißt es zu Altem, Überkommenen. Und wenn man heute im Fernsehen bärtigen Extremisten bei der Zerstörung des Weltkulturerbes zuschaut, dann fragt man sich, wer da was falsch verstanden hat.

Eins ist klar, der Bart lässt Mann optisch älter (und reifer) wirken. Aber hilft es sonst weiter beim Verständnis? Ich habe da meine Zweifel – aber was denken Sie? Wenn langjährige Bärte aber gefallen sind, dann denke ich, man sollte man mal nachfragen, was mit Mann los ist!

 

Ein Kommentar zu „Wann ist ein Mann ein Mann?

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  1. Der Text löst bei mir eine ganze Reihe von Erinnerungen und Gedanken aus. Zumal ich mir (inzwischen bald 64jährig) nach mehr als 40 Jahren vor etwa 1 Jahr den Bart (Vollbart, jedoch seit langem schon sehr kurz geschnitten) abrasiert habe; zu einer Zeit, als Barttragen wieder ‚In‘ wurde, jeder 2. junge Mann mit einer besonders gestutzten Barttracht im Gesicht zu sehen war. Auf Nachfragen meiner Mitmenschen gab ich spontan zur Antwort: „Ich brauche ihn nicht mehr.“ Offenbar habe ich ihn all die Jahre als Insignie der Männlichkeit bzw. als mir selbst zugeschriebenen festen Bestandteil meiner Persönlichkeit gebraucht. Vielleicht als deutliches äußeres Zeichen, weil ich mich im Innern schwach fühlte, mein männliches Selbstwertgefühl diese Kennzeichnung benötigte? Hier taucht der Gedanke auf: hinter einem Vollbart kann man(n) sich auch verstecken.

    Ein Rückblick in meine Geschichte deutet noch auf eine andere Deutungsmöglichkeit hin; als ich nach meinem Schulabschluss mit 18 zur Bundeswehr eingezogen wurde, war es notwendig, die Haare sehr kurz schneiden zu lassen – für mich damals eine ‚Schmach‘, eine Kränkung meiner noch unausgeprägten Persönlichkeit (Man bedenke: 1970 – Zeit der Beatles, Stones; lange Haare als Zeichen der Aufmüpfigkeit gegen die prüde Bürgerlichkeit der Eltern). Aus Protest sozusagen, ließ ich mir dann den Vollbart wachsen, der weiter getragen werden durfte, wenn er bei Beginn der Dienstzeit schon fertig ausgebildet war und gepflegt aussah. Und so blieb er und überdauerte mehr als 40 Jahre.
    Heute trage ich meist einen 3-.8-Tagebart, weil ich das tägliche Rasieren nervig finde; an manchen Tagen kommt er wieder ganz ab und ich freue mich über mein ‚jugendliches Aussehen‘, streiche mit Freude und Genugtuung über die glatte, immer noch geschmeidige Gesichtshaut, stutze ein wenig, wenn ich die kleinen Fältchen am Übergang zum Hals sehe (der Bart vertuscht also doch) und bin immer wieder erstaunt, wenn meine Frau sagt, dass sie mich mit einem kurzen Bart ‚lieber mag‘. Auf meine Nachfrage begründet sie ihre Aussage mit dem berühmten ‚Kratzen‘ bei Berührung meines Gesichtes bzw. dem ‚Sticheln‘ der kurzen nachwachsenden Barthaare beim Küssen.

    Ja, was denn nun? Insignie der Männlichkeit, Vertuschung von Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Männlichkeit, Protest, sich älter und reifer machen, den Ansprüchen bzw. Wünschen des anderer gerecht zu werden versuchen, modische Erscheinungsform …?
    Beim letzteren fällt mir noch ein (und als Aktiver in einem Fitness-Studio in besonderem Maße auf), dass sonstige Körperbehaarung inzwischen ein Tabu ist; alles muss ab; glattrasiert auch an Penis und Po. Die älteren Herren machen es den Jüngeren inzwischen nach und es ist erstaunlich, wie wenig Körper-Haariges es in der Sauna oder im Umkleideraum zu sehen gibt. Modeerscheinung oder Entdeckung einer neuen Sinnlichkeit? In Interviews zu diesem Thema gaben die Befragten sehr unterschiedliche Begründungen für ihr Tun. Das stachelte mich an, es selbst zu auszuprobieren – und ich war erstaunt über die neuartigen Empfindungen beim Berühren und Streicheln meiner Haut: die Entdeckung von ungeahnter Sinnlichkeit, Empfindsamkeit, Zartheit. Entdecken die Männer auf diese Weise gerade ihre weibliche Seite neu? Bart und Penis bleiben letztlich als Symbol der Männlichkeit, als Unterscheidungsmerkmal, um als Mann sichtbar zu sein?

    Lieber Gruß

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