Heute schon einmal ein Einblick in das Sorge-Vorsorge-Modell des Buches. Lesen Sie auch gerne mehr dazu im Blogbeitrag zu den zentralen MännerGrundbedürfnissen (http://wp.me/p3eH4G-jH).
Essen gegen die Trauer
Ein Mann in der Sprechstunde. Er hat Übergewicht, leidet an Bluthochdruck, seine Gelenke schmerzen. Er isst zu viel. Das Gespräch ergibt folgendes Bild: Vor zehn Jahren ist die Frau des Mannes gestorben und hat ihn mit dem Sohn, einem sechsmonatigen Säugling, allein gelassen. Eine Nachbarin hilft ihm bei der Pflege des Kindes. Erst übernimmt sie die Rolle der Mutter, dann die der verstorbenen Ehefrau. Der Mann spricht mit niemandem über das, was ihm widerfahren ist. Nicht über den Tod seiner Frau, die er geliebt hat, nicht über die Bürde der Verantwortung, die als Vater auf ihm lastet, nicht über sein Verhältnis zur Nachbarin, die er als „Lebensabschnittspartnerin“ bezeichnet und ohne deren Hilfe er den Alltag mit dem kleinen Kind wohl kaum bewältigt hätte. Statt zu sprechen isst er. Er isst an gegen die Trauer um seine Frau, gegen die Sorgen um seinen Sohn, gegen das schlechte Gewissen der Nachbarin gegenüber. Bald wiegt er 130 Kilo. Sein Übergewicht gründet nicht in einem Mangel an Disziplin beim Essen – diese Vermutung taucht oft auf, wenn es um Fettleibigkeit geht, ist aber meist nicht zutreffend . Dem Patienten fehlt der Blick zurück auf den Wendepunkt in seinem Leben, auf den Schicksalsschlag, den er nie aufgearbeitet und dadurch nie verkraftet hat.
Der Mann im „Rollen-Ich“
Dabei hat der Mann die letzten Jahre funktioniert, wie die Gesellschaft es von ihm erwartet hat. Oder besser: Er ist in eine Rolle geschlüpft, von der er annahm, dass er sie erfüllen müsse. Nach Regelung aller Formalitäten, ist sein „Rollen-Ich“ zur Arbeit gegangen als wäre nichts geschehen. Sein „Rollen-Ich“ hat Einkäufe erledigt und den Müll runter gebracht. Es hat Fußball geschaut und es hat gegessen. Und es hat den Mann daran gehindert, auch nur ein einziges Mal über sich selbst nachzudenken und seine neue Lebenssituation zu reflektieren. Der Mann und sein „Rollen-Ich“ haben dem Verhalten vieler Männer entsprochen: Sie machen sich nicht bewusst, wo sie im Leben stehen.
Während sich viele Frauen in Folge der Frauenbewegung mit ihrem Rollenverständnis, dem Ausbruch aus Klischees und dem Kampf um Gleichberechtigung auseinander gesetzt haben und immer noch auseinander setzen, haben Männer in den letzten Jahrzehnten keine solche starke soziale Bewegung mitgemacht. Fragen emanzipatorischer Art wie: „Wer bin ich?“, „Was will ich?“ „Was steht mir zu?“ stellen sie sich eher weniger. Und das, obwohl sich die Aufgaben des Mannes zu Hause und bei der Arbeit – beide Bereiche prägen Männer mehr als ihr Freizeitverhalten – in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Nur wenige Männer scheinen diese Entwicklung überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, in ihr Rollenbild zu integrieren. Auch die Perspektive von außen verschiebt sich nur langsam: die Partnerin, die Familie, der Arbeitgeber, die Kollegen – mehrheitlich hängt die Umgebung eines Mannes einem alten Rollenmodell an, in dem derjenige als unmännlich gilt, der einen Salat statt einem Schnitzel bestellt. Dieses von der Gesellschaft gesetzte Rollenverhalten ist mit schuld daran, dass Männer stärker als Frauen in ihrem „Rollen-Ich“ aufgehen und nur selten ihr „Selbstbild-Ich“ finden. Das gilt insbesondere für jüngere Männer und Männer in mittleren Jahren, also dann, wenn eine gesunde Lebensweise am wirkungsvollsten ansetzen würde.
Das „Sorge-Vorsorge-Modell“
Ein Mann, der den Erwartungen an sein „Rollen-Ich“ und seinen eigenen Ansprüchen gerecht werden möchte, steht unter Druck. Da ist nicht nur der Druck von außen, sondern vor allem der Druck, den er sich selbst macht, indem er sein „Rollen-Ich“ immer wieder auf ein optimales Männlichkeitsverhalten hin überprüft und gegebenenfalls anpasst. Wo Druck entsteht, braucht es den Ausgleich, braucht es ein Ventil. In der Regel funktioniert die Kompensation über das individuelle Gesundheitsverhalten eines Mannes. Einige wenige wählen den sichernden, eher „weiblichen“ Weg der Vorsorge. Die anderen, die große Mehrheit der Männer, schlägt den „Sorgeweg“ ein, der „männlicher“ konnotiert ist. Etliche Männer verschaffen sich einen Ausgleich, ohne viele Worte zu machen. Sie externalisieren ihre Probleme, verlagern sie nach außen. Sie agieren häufig ohne ihr Handeln zu reflektieren und kompensieren in einer Weise, die auf den Sorgeweg führt. Die Befriedigung der zentralen Grundbedürfnisse rückt in den Fokus: Der Mensch muss essen, schlafen sowie Körper, Geist und Seele pflegen.
„Eat… sleep… go fishing“
Der Homo sapiens braucht wenig zum Überleben. Zentrale Grundbedürfnisse eines Männerlebens lassen sich überspitzt ausgedrückt auf den Werbespruch eines Angelsport-Herstellers reduzieren. „Eat… sleep… go fishing“ verspricht Zufriedenheit, wenn man isst, schläft und Angeln geht. Mit Blick auf das Thema Männergesundheit könnte man daraus die Aufforderung „Rauslassen, Ausgleichen, Aufnehmen“ generieren. Die drei Grundbedürfnisse eines Mannes versprechen also von sich aus Gesundheit. Voraussetzung ist, dass sie einen gewissen Raum im Leben eines Mannes einnehmen und dieser sie nicht maßlos, sondern kontrolliert befriedigt. An dieser Stelle bricht die männliche Realität manchmal aus dem Idealmodell aus: Männer gehen Extremsportarten nach, neigen zu Süchten und führen regelmäßig die Statistiken zur Gewaltkriminalität an. „Rauslassen, Ausgleichen, Aufnehmen“ – im besten Falle schaffen Männer es, auf dem Vorsorgeweg Stress abzubauen. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse entwickelt hier eine sichernde Kraft: Bewegung und Sport, Freundschaften, feste Partner, genügend Schlaf, Hobbies, Essen und Trinken halten gesund.
Im schlechten Falle, leider geschieht das zu oft, landen Männer über diese Art der Kompensation auf dem Sorgeweg; hier entfaltet das gefährdende Potenzial der Bedürfnis-Befriedigung seine Wirkung. Extremsport, risiko- und gewaltbereites Verhalten, der Mangel an Schlaf und an sozialen Kontakten, Internet-, Spiel- und Arbeitssucht, maßloses Essen, zu viel Alkohol, Drogen machen krank.
Krank versus gesund
Gefährdendes Gesundheitsverhalten muss nicht sofort zu Problemen führen, bei manchen Männern geht es über Jahre gut. Aber auch wenn die Wegstrecke individuell verläuft, mündet das Ende des Sorgeweges fast immer in einer Krankheit. Viele Männer wagen erst wenn sie krank sind den Blick auf sich selbst. Oft hat ein Erlebnis – eine Kündigung, Mobbing, der Tod eines Angehörigen – einen Zusammenbruch ausgelöst und die Fassade bröckeln lassen, hinter der die Krankheit zum Vorschein kam. Endlich setzen sich Männer mit sich selbst und ihrer Rolle auseinander, nicht wenige orientieren sich neu. Ein Prozess der Selbstfindung setzt ein.Betroffene achten auf sich, gehen „vorsorglicher“ mit sich um, akzeptieren ihre Grenzen. Die späte Selbstfindung erleben viele als wohltuend und legen sie, man staune, als „männlich“ aus. Im Verlauf einer Krankheit finden Männer oft den Schlüssel zu ihrem Ich und geben ihr „Rollen-Ich“ auf.
Auf dem Vorsorgeweg entsteht Gesundheit durch Selbstmanagement. Wer Sport macht, einen Arbeitsplatz und Freunde hat und gern Gemüse isst, kann dosiert Druck ablassen und so zu seiner Gesundheit beitragen. Wer diesen Weg geht, der geht ihn bewusst und steuert sein Alltags-Verhalten – was vielen Männern „weiblich“ und „übergesundheitlich“ vorkommt, zumal sie ihre Laster als Teil ihres Männlichkeitsempfindens oft nicht aufgeben wollen.
Der gute Männerweg
Wo die Grundbedürfnis-Befriedigung von Männern in der überwiegenden Zahl der Fälle gefährdend wirkt, ist das Ziel von Gesundheitsförderung und Prävention klar: Es geht darum, die Männer auf den sicheren Vorsorgeweg zu führen. Der Verzicht auf Alkohol, kontrolliertes Essen oder das Aufhören mit dem Rauchen – solche Maßnahmen stufen manche Männer als „weibliche“ Selbstkasteiung ein und schließen sie für sich aus. Man kann bestimmte Verhaltensweisen nicht verbieten. Männergesundheitsarbeit sollte auch nicht primär die Gesundheit eines Mannes in den Blick nehmen, sondern die Selbstfürsorge oder Selbst“vor“sorge in ihm wecken und ihm damit einen guten Mittelweg, den „guten Männerweg“ ebnen.
Man kann lieb gewonnene Gewohnheiten nicht streichen, ohne Mechanismen zur Kompensation aufzuzeigen. Der Begriff „flexible Kontrolle“ funktioniert hierbei als eine Art Zauberwort. Wenn der Mann, der den Tod seiner Frau nie verarbeitet hat und darüber adipös geworden ist, an einem Tag in der Woche essen kann, was er will, dann unterliegt das der „flexiblen Kontrolle“. Das schlechte Gewissen, das leicht zu kompensatorischem Essverhalten führt, bleibt selbst dann aus, wenn der Mann seiner Lust auf zwei Tüten Paprika-Chips nachgibt. Die Möglichkeit der „flexiblen Kontrolle“ hilft ihm, den Abnehmkurs zu Ende zu bringen und im Zweifelsfalle nicht aufzugeben. Ein Mann, der auf sich vertraut und der sich selbst gut tut, dem geht es auch gut. Und uns Männern soll es doch gut gehen.
Wie immer wünsche ich Ihnen eine gesundheitliche Woche!
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