„Seit wann?“ Diese Frage ist eigentlich eine klassische ärztliche Frage in der Anamnese. Täglich wird „sie“ tausendfach in Deutschland gestellt: „Seit wann haben sie die Beschwerden?“ Meist denken die Beteiligten an beiden Enden des Behandlertisches nur kurzfristig. Wer mit zu kurz vorhandenen Beschwerden kommt, erhält meist ein Behandlerkopfschütteln „Was wollen Sie denn hier!?“ und derjenige, der zu lange gewartet hat, erhält ebenfalls diese „nette“ Geste. Allerdings mit dem Behandlergedankengang „Warum kommen Sie denn erst jetzt!?“. Es gibt jedoch auch Ausnahmen. In der psychotherapeutischen und präventivmedizinischen Arbeit stellt man die Frage auch gerne mit einem weiter zurückliegenden Blick. Die schon zuvor beschriebene „Da-wo´s“-Therapie, also nur da zu schauen, wo es zwickt, funktioniert hier nicht.
Das „Seit wann?“ beschäftigt mich immer wieder und zunehmend mehr bei der Arbeit mit Männern. Vor meiner Interviewreise hab ich „sie“ wahrscheinlich unbewusst gestellt, aber nach den vielen Gesprächen des letzten Jahres implementiere ich „sie“ noch verstärkter. Männertherapeuten, Coaches (und wie sie alle heißen) haben mir auf unterschiedliche Weise von ihrem biographischen Arbeiten mit Männern berichtet. „Aufdecken und konfrontieren“ scheint dabei das Rezept zu sein. In der Arbeit mit Männern fällt dieses recht schwer, da vieles nicht direkt genannt wird. Man(n) muss schon dann und wann mal nachfragen. Aktives Zuhören würde es der Fachmann nennen. Ich sag mal: Zuhören, nachhaken, einhaken, rückmelden, wieder zuhören, nachbohren, nicht müde werden und es langsam wertschätzend hervorholen.
Vielleicht ginge es initial etwas leichter, wenn man stattdessen fragen würde: „Seit wann haben sie die Sorgen und Beschwerden?“ Durch die Öffnung den Sorgen gegenüber äußert man auch verbal das Interesse für das „Dahinter“. In meiner Arbeit mit Männern komme ich immer wieder auf diese Sorgen zurück. Man erhält zwar nicht selten auf das erste „Seit wann?“ die lapidare Antwort: „Ohhhh… mhhh… keine Ahnung!“ Doch auf Nachfragen und durchs aktive Zuhören kommen dann nicht selten Dinge ans Tageslicht, die ich hier schon mehrfach anhand von Fallbeispielen beschrieben habe.
Wenn wir wirklich etwas verändern und helfen wollen, sollten wir dieses biographische Denken und Handeln nicht vernachlässigen. Gerade vor Kurzem habe ich wieder einen Patienten nach dem Beginn seines „Sich-vernachlässigen“ mit der Entwicklung von Übergewicht und Diabetes gefragt. Auch hier war wieder das schon zitierte „Aus-der-Nase-ziehen“ angesagt.
Hier kurz unser Wortwechsel: „Seit wann ist das so?“ – „Och… seit bestimmt 15 Jahren!“ – „Und… was war vor 15 Jahren?“ – „Weiß ich nicht mehr! Obwohl… vor 16 Jahren ging meine alte Firma in Konkurs und ich musste neu anfangen. Früher war das einfach eine bessere Gemeinschaft.“ Im weiteren Gespräch beschrieb er sehr plastisch das „Davor“ und „Danach“. Dieser Mann kümmerte sich früher gerne um seine Kinder und war viel aktiver in seiner Partnerschaft. Später ließ er vieles einfach laufen und sprach nicht mehr drüber. Er hatte vorher einen Job, der in erfüllte und ihm eine Selbsterfüllung gab. Aufgrund des Konkurses und Strukturwandels musste er als Ernährer woanders anheuern und konnte sich nicht mehr in alt gewohnter Weise einbringen und seine Selbsterfüllung war fort. Hatte er deswegen seit Jahren eine sublatente Männerdepression? Ich glaube nicht. Ich denke, ein sich vernachlässigendes Gesundheitsverhalten ist eine von vielen Vorstufen zur Männerdepression. Und was bringt es ihm nun von seinem Auslöser zu wissen? Auch das kann nicht genau beantworten. Aber mit Rückhalt all der Menschen, mit denen ich dazu gesprochen habe ist schon so, dass alleine das „Aufdecken und konfrontieren“ etwas für die Zukunft bringen kann.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen wie immer eine gesundheitliche Woche!
Begriffsdefinition bei Wikipedia: Biografiearbeit ist eine strukturierte Form zur Selbstreflexion der Biografie in einem professionellen Setting. Die Reflexion einer biografischen Vergangenheit dient ihrem Verständnis in der Gegenwart und einer möglichen Gestaltung der Zukunft. Dabei wird die individuelle Biografie in einem gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang gesehen. Aus dieser Sichtweise lassen sich zukünftige Handlungspotenziale entwickeln. (Ingrid Miethe: Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Juventa, Weinheim 2011, S. 24. http://de.wikipedia.org/wiki/Biografiearbeit)
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