Wieder Notdienst, diesmal tagsüber, vor einigen Jahren. Ich hatte ja schon zuvor viel über Gesprächspausen gehört, sie selber aber nie aushalten können. Das ist nämlich gar nicht so leicht, wenn man gerne selbst spricht. Ich sah einen Mann, der sich wegen seiner Hüftschmerzen meldete. Nach Aussage der Sprechstundenhilfe, wieder einmal. Da fährt man schon anders hin. Er wollte auch wieder mal nicht in die Praxis kommen und forderte „seinen“ Hausbesuch ein. Ich kam in das Haus und mir ein lahmender Mann entgegen. Erste Frage „Was ist denn los?!“ – „Was ist los?! Mein Orthopäde will mich arbeiten schicken. Mit disen Schmerzen könnte ich wohl nun auch arbeiten gehen. Ihr Schei…ärzte! Ich war gestern wieder im Computertomgraph – und wieder nichts. Ich soll nichts haben.“ Nach der Klärung, dass diese Beschwerden schon seit vielen Jahren bestünden und ich es ablehnte diesen Mann per Notdienst krank zu schreiben, weil man das nicht an einem Sonntagnachmittag macht, kamen wir ins Gespräch. „Wenn Sie möchten, können wir gerne mal etwas anders darüber reden. Lassen wir einmal die Schmerzen beiseite. Was ist Ihr Thema?“ – „Wie? Was is‘ mein Thema? Was wollen Sie denn von mir?! ICH habe SCHMERZEN und IHR findet nichts, seit Jahren.“ – „Der Horizont Ihre Röntgenärzte und Orthopäden endet halt hier.“ Ich machte eine Strichbewegung vor dem Mann und wiederholte meine Themenfrage. Er blockierte erneut. Und ich wiederholte erneut. Seine nächste Antwort war schon etwas anders. „Wenn ich Ihnen das sage, schicken Sie mich sowieso gleich nach ….“ (Er meinte damit die örtliche Psychiatrie.) – „Ehhhh…ich glaub´ nicht. Das mache ich nur wenn Sie selbst wollen. Und das sehe ich im Moment noch nicht mit uns beiden. Also, wat is´ los?“ Stille. Nichts passierte. Dieser Mann schwieg. Ca. zehn Minuten. Das einzige was passierte, waren seine zunehmend glasig werdenden Augen. Er wurde unruhiger und ich hatte das Gefühl, vor mir einen brodelnden Vulkan sitzen zu haben. Ich musste mir die ganze Zeit auf die Zunge beißen. Bloß jetzt nichts sagen. Abwarten. Stille und ein Vulkan kurz vor der Eruption. Der Mann vor mir fing langsam an zu stottern. Und das ist jetzt nicht ausgedacht, sondern das einzig wirklich wahre an dieser Geschichte. Der Mann konnte sein Thema aussprechen. Björn Süfke würde das in diesem Falle wahrscheinlich „liebevolle Konfrontation“ nennen und andere wären erbost über den sehr direkten Gesprächsstil. Wie kann er nur, also ich! Der Mann berichtete von einer Geschichte von vor 6 Jahren. Ich möchte hier nicht allzu sehr ins Detail gehen, aber nur eins dazu berichten. Er hatte damals noch einen anderen Beruf. Er war damals Krankenpfleger in einem der Altenheime vor Ort. Stotternd: „Wenn… Sie da arbeiten… und Ihre Chefin…. sagt nur zur Personal… abteilung: „Wenn Sie in die Hände von Herrn… kommen, sind… Sie schon tot. Der kann… gar… nichts.“ – „Wie? Was….? Was ist Ihnen passiert?“ Der Mann stotterte weiter und war am Weinen. Er kotzte etwas aus und ich musste das aushalten. Ich kürze jetzt hier ab. Er berichtete, dass er bei einer Wiederbelebung eines Bewohners helfen musste und dabei wegen Aufregung ausgerastet wäre. Und keiner hätte im Nachhinein darauf reagiert, weder mit Schuldvorwürfen noch mit sonst etwas. Sie alle haben einfach weitergemacht. Dieser Mann war einige Wochen später selber gegangen und hatte nach eigenen Aussagen noch nie darüber gesprochen. Das sagen Patienten übrigens nicht selten. Ob es stimmt, weiß ich immer nicht. Ist auch egal. Was war nun sein Problem, sein unausgesprochenes Problem? Er hatte seit 6 Jahren das Gefühl, er sei ein Mörder. Warum? Weil er dachte, das Falsche an Medikation bei der Wiederbelebung aufgezogen zu haben und dem anwesenden Hausarzt dies dann angereicht hätte. Wie löst man das nun auf? Geht eigentlich gar nicht. Als er im Verlauf wieder ruhiger wurde, konnten wir über das Thema etwas sachlicher sprechen. Er berichtete, dass er seit Jahren nicht mehr so emotional gewesen sei. Es ginge im besser. Beiläufig stellte er auf Rückfrage auch fest, dass seine Beschwerden seit diesem Zeitraum bestünden. Ob ein Mann sich von diesen gezeigten psychosomatischen Beschwerden in nur einem Gespräch distanzieren kann, glaube ich nicht. Das wäre ein Wunder und ich Harry Potter. Und beides gibt es nur im Märchen oder im Kino. Warum erzähle ich das hier? Durch das schon dann und wann angesprochene eher männliche Externalisieren können solche Geschichten passieren. Dieser Mann wird (nicht unwahrscheinlich) nie wieder ganz gesund. Dafür geht das Lahmen schon zu lange. Dieses Nicht-Sprechen ist natürlich nicht komplett männerspezifisch. Ich glaube aber, dass leider nur wenige, ich nenne sie mal Betreuende, sich die Mühe machen, mal beim Nachhaken dran zu bleiben. Warum ist das so? Ich glaube gar nicht, dass das nur an diesem Mann liegt. Man(n), und das schreibe ich extra so, glaubt nicht, dass dieser Mann so etwas bei diesen Beschwerden „verbergen“ könnte. Durch das Zeigen einer männlichen Stärke, findet weder der Betroffene noch der Behandelnde den Zugang „dazu“. Schade eigentlich. Dieser Mann kann sehr gut eine nicht diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung haben und seit Jahren diese in Form der Hüftschmerzen nach außen tragen. Von daher soll das Bild die Last zeigen, die ihn zum Lahmen brachte und wahrscheinlich dauerhaft behindern wird, Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft.
Der Mann, der 6 Jahre lahmte – …und es wahrscheinlich immer noch tut

Hat dies auf Blog-bewegt! rebloggt und kommentierte:
Ein weiteres Beispiel zum Thema Männergesundheit oder auch ‚Wie Männer oftmals mit sich und ihrer Gesundheit umgehen‘. Trotz des kompetenten Bemühens des Arztes und die damit einher gehende Erleichterung auf Seiten des Mannes kann er sich dazu durchringen, auf dem Weg weiterzugehen, den ihm der Arzt aufzeigt. Dies wird deutlich, wenn man die Fortsetzung dieser ‚Geschichte‘ liest, die im blog von Peter Kölln in einer seiner späteren Montagskolumnen nachzulesen ist. Es macht mich traurig, dies zu lesen.